Nachbarschaft als Netz – ein Gespräch mit Gesine Palmer

Wir kennen uns seit den mittleren nuller Jahren. Damals traf ich Gesine Palmer bei einer Verbandstagung und erlebte sie als eine Gesprächspartnerin, die nachdenklich und engagiert deutlich machte, wie wichtig es ist, sich Zeit zu nehmen und zu geben. Ihr Sinn für Humor geht einher mit gut begründeter Skepsis gegenüber vorschnellen Kurzschlüssen.

Wie sich seither herausgestellt hat, sind wir uns schon in den 80er Jahren über den Weg gelaufen, am häufigsten vermutlich im Henry-Ford-Bau der Freien Universität, in dem Klaus Heinrich, einer unserer damaligen Lehrer, seine Vorlesungen hielt. Ein prägendes Bildungserlebnis.

Es gibt eine weitere Parallele. Wir sind beide Pfarrerskinder, sie studierte Theologie, in der 7. Generation, ich als eins von sieben Kindern eines reformierten Pfarrers am Niederrhein.

Wir wohnen beide in der Steinmetzstraße, sie im Süden, ich im Norden. Als ich sie einlud zu dem Gespräch, sagte sie sofort zu, obschon sie infolge ihrer Arbeit als Trauerrednerin und als Projektmitarbeiterin an der Katholischen Akademie viel zu tun hat.

HH: Guten Tag, Gesine. Schön, dass es geklappt hat. Willkommen zu dem Gespräch. Es ist eine Premiere in meinem Projekt „Schreiben für die Nachbarschaft“. Ich will in diesem Projekt das oft kaum sichtbare Netz von nachbarschaftlichen Beziehungen sichtbar machen und ihren möglichen Nutzen mehren.

GP: Guten Tag Hans, entschuldige bitte die Hektik, ich bin ein bisschen strapaziert und eben erst von einer Trauerfeier zurückgekommen. Meine wunderbare Reinigungskraft hat freundlicherweise eben schnell das Büro sauber gemacht, damit ich hier sitzen und weiter zoomen kann, und sie war dann tatsächlich schneller, als ich erwartete.

(Die Gespräche finden wegen der Corona-Pandemie bis auf weiteres nur online statt. Wir sehen uns durch die Linsen unserer Kameras und hören uns über die Lautsprecher.)

HH: Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast für dieses Gespräch. Ich weiß, dass du schon lange in der Nachbarschaft wohnst und würde gerne mit dir darüber reden, ob und wenn ja, wie sich die Nachbarschaft seither verändert hat.

GP: Gern. Ich bin 2008 in die Kulmer Straße gezogen, in so ein Haus aus den 80er Jahren. Das Haus hat einen gemeinsamen Hinterhof mit der Firma Leydicke – ein Berliner Urgestein in der Mansteinstraße. Deren Lokal wurde schon in den 70er Jahren von Schülerklassenfahrten aus Westdeutschland für Gemeinschaftsabende genutzt, und solche Schüler:innentreffen habe ich da auch in den Nullerjahren noch gesehen. Für das Leben mitten in der Stadt kurios war, dass dort Tag und Nacht der Hahn kräht. Auch der heutige Inhaber produziert hier Eierlikör und hält dafür eine eigene Hühnerschar mit Hahn und auch ein paar Gänse. Dann gibt es noch ein paar wild gewordene Stadtkatzen, die manchmal auf das Geflügelgehege losgehen und für Geschrei sorgen.

Daher fiel es mir auch nicht schwer wegzuziehen, nachdem meine ältere Tochter ausgezogen war. Ich fand eine kleinere Wohnung in der Steinmetzstraße, eine Straße weiter. Hier gibt es alteingesessene deutsche, alteingesessene türkische, alteingesessene kurdische,und ebenfalls alteingesessene alevitische, libanesische, russische Familien und Nichtfamilien. Sicher ist der Single-Anteil, zu dem ich nun ja auch gehöre, relativ hoch, aber ebenso der Anteil relativ großer Familien, die in der Steinmetzstraße Balkons durch vorgehängte Tücher zu Wohnräumen ausgestalten, solange es warm genug ist.

HH: Das ist bei mir hier genauso. Ich möchte noch mal fragen, wie du die Veränderungen siehst.

GP: Was hat sich verändert? Es ist nicht mehr wie früher der ausgewiesene Schwulenkiez – davon sind nur noch Spuren übrig. Es gibt noch ein paar Lesbenzentren, es gab das Schwuz in der Kulmer Straße und das Andere Ufer in der Hauptstraße, aber die Szene hat sich weitgehend in die Nachbarschaft des Nollendorfplatzes verlagert.

HH: Da gab es früher die Wohngemeinschaft von Wieland Speck in der Hauptstraße und das Haus, in dem David Bowie gewohnt hatte. Heute weist eine Gedenktafel darauf hin. Ein bisschen museal.

GP: Dann hat sich viel verändert durch die Neubauten am Gleisdreieckpark. Dadurch ist eine neue städtische Population hinzugekommen, aus der Generation meiner Kinder und ein kleines bisschen älter. Kürzlich habe ich an der katholischen Akademie jemanden getroffen, der in einem dieser Häuser an der Dennewitzstraße wohnt. Mit Aufmerksamkeit habe ich beobachtet, wie da aus einer Jahrzehnte alten Brache eine sehr dicht besiedelte Nachbarschaft geworden ist, nun kenne ich leibhaftige Bewohner:innen.

HH: Das ist an der Ecke von Kurfürstenstraße und Dennewitzstraße. Die Neubauten sind im Kontrast zum sozialen Wohnungsbau in der Kurfürstenstraße Luxus. Mit den neuen Nachbarn kommt auch in der sozialen Schichtung ein kleines Sahnehäubchen von oben dazu: wer 5000 bis 10.000 € für den Quadratmeter zahlt, wirft einen anderen Blick auf die neue Nachbarschaft. Was finden sie gut, was stört sie und so weiter. In den ersten beiden Pandemiesommern waren Krach und Streit an der Tagesordnung. Die einen feierten auf den Wiesen, die anderen wollten Ruhe auf ihren Dachterrassen. Polizeieinsätze können das nicht befrieden.

GP: Es gibt seither auch mehr Bioläden und kleine edle Restaurants.

HH: Die Preise bei den Friseuren sind auch nach oben gegangen.

GP: Ich mag das schon – aber manchmal gehe ich natürlich weiterhin zum Lidl um die Ecke und kenne da inzwischen jede Kassiererin und jeden Kassierer. Die fragen mich, ob ich als Trauerrednerin mehr zu tun habe.

HH: Ist das so?

GP: Es war so. Am Anfang weniger, weil viele Feiern und Veranstaltungen abgesagt wurden. Nach ein paar Monaten hatte sich das eingespielt, dann wurde es normal und dann kam der erste Winter. Im Winter gab es eine deutliche Übersterblichkeit und das hat sich natürlich auch für uns bemerkbar gemacht. Das wurde dann anders, weil viele Schauspielerinnen und Schauspieler und Leute aus der Kulturbranche Auftrittsgelegenheiten verloren hatten und manche von ihnen sich gedacht hatten, versuchen wir es doch einmal als Trauerredner.

HH: Oh, nein!

GP: So sind Leute auf den Markt gedrängt, die auch Etablierten wie mir zu schaffen gemacht haben. Nur einzelne haben sich länger gehalten, man muss die Belastungen aushalten, diesen Job zu machen; davon gibt es einige: man muss mit den Trauernden, mit den Geschichten und, nicht zu vergessen, mit den Auftraggebern, etwa den Bestattungsunternehmen zurecht kommen.

HH: Gehen wir jetzt noch mal zurück in den November, Dezember 2019, als erste Nachrichten aus China und dann später aus Bergamo von einer neuen Viruserkrankung berichteten. Wir hatten das anfangs nur aus der Ferne wahrgenommen. Ich glaube mich, daran zu erinnern, dass in deiner Nachbarschaft damals ein Haus gebrannt hat.

GP: Ja, das hat uns damals alle sehr beschäftigt. Es gab zwei Todesopfer. Das war ganz furchtbar. Ich teile den Hinterhof mit den Bewohnern des Hauses. Ich bin morgens aufgewacht von den Hilfeschreien einer Frau, sehr laut, sehr heftig: „Es brennt, es brennt, Feuer, Feuer, schnell, schnell!“ Da hatten Mitarbeiter der BSR und Nachbarn aus dem Haus schon die Feuerwehr benachrichtigt. Die Frau war aber gehbehindert und konnte selber nicht aus der Wohnung fliehen. Der Vater war zur Arbeit gegangen, die Frau war mit den beiden Kindern zu Hause. Die Tochter war schlauerweise ins Bad gelaufen und hatte sich dort ans Fenster gehängt und die Badezimmertür zugemacht. Deswegen hat sie überlebt. Die Frau und der kleine Junge sind beide umgekommen. Man hat noch versucht, sie wiederzubeleben. Das Kind hatten sie mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht, aber die Hilfe kam zu spät. Die ausgebrannte Wohnung war noch eine ganze Weile zu sehen. Mitschüler und Mitschülerinnen von dem gestorbenen Jungen haben Teddybären und alles Mögliche vor die Schutthalde gelegt. Das war sehr schrecklich.

Der Brand hat auch ein Problem in meinem Haus deutlich gemacht. Es gibt immer wieder Auseinandersetzungen mit den Nachbarn im Erdgeschoss. Aus Angst vor Einbrechern schließen sie die Haustür ab. Meine anderen Nachbarn und ich versuchen zu sagen: „Wenn es mal brennt, dann holen wir nicht erst den Schlüssel, sondern wollen gleich raus.“ Die Brandschutzverordnung ist da eindeutig. Aber wir können uns nicht wirklich durchsetzen.

HH: Vielleicht macht es sich bezahlt, an den Außenbalkonen belastbare Seile anzubringen, an denen man sich herunter hangeln kann.

GP: Gute Idee.

HH: Dann könnten andere auch rauf klettern?

GP: Aber man könnte sie auf den Balkonen zusammenrollen wie ein Schiffstau. Ich werde über die Umsetzung mit meinem geschickten Neffen reden.

HH: Ich bin hier in die Nachbarschaft gezogen, als ich im Herbst 2001 aus Frankfurt zurück nach Berlin gezogen bin. Erst habe ich am Willmanndamm gewohnt und dann seit März 2003 in der Steinmetzstraße. Am Willmanndamm gab es im Erdgeschoss einen südasiatischen Großhändler, aus dessen Lager manchmal Mäuse über die Steigeleitungen zu uns nach oben geklettert kamen. Schräg gegenüber gab es ein Übernachtungsheim für Obdachlose. Und es gab den Laden „Autos und Weine“.

GP: Die kenne ich seit den siebziger Jahren, ebenso wie mein Lieblingsrestaurant „Petite Europe“, wo ich abends Freunde aus der Akazienstraße oder dem Willmanndamm treffe. Ein italienischer Familienbetrieb. 1978 bin ich nach Berlin gezogen …

HH: … ich im Herbst 1977 …

GP: … und habe erst in der Crellestraße und dann später am Gustav Müller Platz gewohnt.

HH: In der Crellestraße hatte sich ein Teil unseres Verlagsbüros befunden. Gleich nebenan residierte der Merveverlag von Peter Gente und Heidi Paris. Wir sind uns womöglich schon vor 44 Jahren begegnet …

GP: … ja, die hatten interessante Veranstaltungen gemacht.

HH: Peter Gente ist, nachdem er den Verlag verkauft hatte, nach Thailand gezogen. Kürzlich hat ein FB-Freund in Chiang Mai bei einem Buchhändler Bücher von ihm gefunden. Gente ist 2014 in Chiang Mai gestorben. Als wir im vergangenen Frühling die Urne mit der Asche von Tabea Blumenschein beisetzten, kamen wir am Grab von Heidi Paris und Peter Gente vorbei. Die Avantgarde-Nachbarn aus dem Kiez liegen nun auf dem Friedhof wieder beieinander.

GP: Da ist ja auch Rio Reiser begraben. Und ein bisschen früher die Brüder Grimm, die haben natürlich ein Ehrengrab, und ich glaube Rio Reiser auch.

HH: Vor ein paar Jahren gab es auf dem Friedhof ein Gedenkkonzert und viele noch lebende Freunde und Fans kamen da. Kommen wir nun zurück zur Gegenwart. Du bist Trauerrednerin, hast Theologie, Religionswissenschaft und Philosophie studiert. Wie viel Einfluss hat deine theologische Bildung auf die berufliche Praxis als Trauerrednerin?

GP: (lacht) Naja, es schadet nicht, wenn man ein bisschen selbst denken kann. Wenn man Theologie auf eine vernünftige Weise studiert hat, verlernt man es dabei auch nicht. Was mir am meisten hilft, ist freilich, dass ich auch Religionswissenschaft studiert und dabei sehr viel Psychoanalyse gemacht habe.

HH: Hattest du das in Berlin studiert?

GP: Ja, an der FU bei Klaus Heinrich, Jakob Taubes, Michael Theunissen, Ernst Tugendhat, Carsten Colpe und Friedrich-Wilhelm Marquardt …

HH: … die erste Sahne …

GP: ja, ebenso am Institut für Judaistik bei Marianne Awerbuch, Peter Schäfer, Michael Brocke, Nico Oswald …

HH: Hast du mitbekommen, dass kürzlich ein Buch mit Zeichnungen von Klaus Heinrich erschienen ist? Das ist wirklich frappierend, wie er auch das zustande brachte.

GP: Einer seiner Schüler lebt hier in Schöneberg-Nord, Reinald Gußmann, der den Vorwerk 8 Verlag in der Großgörschenstraße betreibt. Bei ihm habe ich in den neunziger Jahren in den Verlagsräumen die Texte einer von mir zusammengerufenen Nachwuchswissenschaftlerkonferenz herausgebracht.

HH: Als ich in den 80er Jahren in Friedenau gewohnt hatte, war Lorenz Wilkens mein Nachbar, auch ein Heinrich-Schüler. Meine Wohnung hatte ein Außenbad und manchmal konnte es vorkommen, dass ich im Treppenhaus Klaus Heinrich über den Weg lief. Ich hörte seine helle Stimme im Treppenhaus und dachte mir, oh jetzt musst du aber den Bademantel anziehen.

Wie wir sehen, haben wir eine Vorgeschichte von über 40 Jahren. Nun aber wieder zurück zu unserer heutigen räumlichen Nachbarschaft in Schöneberg-Nord und der Art, wie wir sie wahrnehmen. Wie nimmst du die Verwaltung und das Quartiersmanagement wahr?

GP: Ich bekomme davon nicht viel mit.

HH: Aber du bist Zeugin des Wandels, der sich hier vollzieht.

GP: Gegenüber von meinem Haus liegt die Neumark-Grundschule. Die Straße ist hier für den Durchgangsverkehr gesperrt. Dazwischen ist ein kleiner Platz entstanden mit Holztischen und Bänken. Dort sitzen im Sommer tagsüber die Familien, meistens mit ostmediterranem Hintergrund. Wenn die Mütter mit den Kindern nach Hause gehen, kommt die Oualla-Fraktion, wie ich sie bei mir nenne – sehr kräftige junge Männer, die mit laut gesprochenem „Oualla“ alle Welt sehr gerne darauf aufmerksam machen, wie wahnsinnig stark und cool sie sind. Ich gebe zu, das geht mir manchmal ein bisschen auf die Nerven. Ich hatte im letzten Herbst Gelegenheit, hier weg zu ziehen – ein Freund von mir, der am Willmanndamm wohnt, bot mir an, in seine Eigentumszweitwohnung in einem schönen Wilmersdorfer Altbau als Mieterin zu ziehen. (Unter der Woche arbeitet er als Professor in Münster. Ein weiterer Kollege von ihm wohnt in der Großgörschenstraße, die pendeln unermüdlich zwischen Berlin und Münster). Wegen der Häufigkeit sehr aggressiver Sounds hier war ich ernsthaft in Versuchung. Aber dann: ich wohne gerne hier, mit meinen kurzen Wegen zur Philharmonie, zur Staatsbibliothek und zur Matthäus-Kirche.

Ich genieße die Vielfalt in der Nachbarschaft; besonders beeindrucken mich die tüchtigen Aleviten, die hier kleine stabile Dienstleistungsbetriebe unterhalten. Sie haben es nicht leicht, aber sie überzeugen durch Tüchtigkeit. Damit erinnern sie mich an die Zeit, die ich in Jerusalem gelebt habe. Da galten die jemenitischen Israelis unter den „Alteuropäern“ als die „schwarzen Ashkenasim“. Das hatten sie sich mit ihrer erstaunlichen Ähnlichkeit zu den Deutschen erarbeitet, sie waren unglaublich fleißig, diszipliniert und ordentlich. Hier die Aleviten haben ein zusätzliches Problem: sie müssen sich sehr diplomatisch verhalten, um keinen Stress mit anderen Familien aus ihren Herkunftsländern zu bekommen. Ihr Fleiß und ihr bescheidener Wohlstand aus den kleinen Geschäften, die sie seit Jahrzehnten betreiben, wecken auch Neid. Natürlich ist das nicht auf die Aleviten beschränkt. Ich denke etwa an meine unglaublich tüchtige, unglaublich nette und manchmal bezaubernd garstige türkische Friseurin in der Eisenacher Straße, die einen nach außen etwas unwirtlich wirkenden Friseursalon betreibt, aber Meisterin ist und ihr Fach glänzend versteht. Wir haben auch in Coronazeiten auf beste Weise unsere Zusammenarbeit fortgesetzt – so wie sie arbeitet, steckt sich bestimmt niemand an, auch da absolut akkurat.

HH: Ähnlich ging es mir mit meinem kosovarischen Friseur in der Alevenslebenstraße. Gleich im Frühling hat er sich für seinen Laden Luftfilter gekauft.

GP: Es gibt sehr tüchtige Menschen. Vor meiner Friseurin habe ich großen Respekt. Sie zieht alleine ein Kind groß, mit etwas Hilfe durch ihre Mutter, und bringt ihren Laden durch jede Krise. Von ihr bin ich sehr beeindruckt.

HH: Die Aleviten sind in Syrien, im Irak und in der Türkei zwischen die Fronten gekommen und hier in unserer Nachbarschaft haben sie es auch nicht leichter.

GP: Zurück zu diesem Platz vor meinem Haus …

HH: … wir mäandern, aber genau das gehört zu diesem Gesprächsformat …

GP: … manchmal nervt mich der Krach von dem Platz, ohne dass ich mich wehren kann. Morgens das Geschrei vom Schulhof, als ob da gerade einer Amok läuft. Ich weiß gar nicht, wie sie schreien würden, wenn da wirklich einer Amok läuft… Ich gehe auf den Balkon und schaue nach, was da los ist. …

Aber sie haben sich auch an mich gewöhnt. Das merke ich an Kleinigkeiten. Letztes Jahr hatte ich einen Fahrradunfall und konnte mein Fahrrad nicht immer wie sonst in den Keller stellen, weil ich ein paar Rippen geprellt hatte und das Fahrrad nicht mehr tragen konnte. Dann habe ich es immer vorne an das Geländer angeschlossen – und vor ein paar Tagen hatte ich das Fahrrad offenbar nicht richtig angeschlossen und das Schloss war heruntergefallen. Jemand hatte es in den Gepäckkorb auf dem Fahrrad gelegt und das Fahrrad stand unabgeschlossen mit dem offenen Zahlenschloss im Gepäckkorb vor dem Haus.

HH: Was was für ein schöner Trost!

GP: Das fand ich so süß – und in solchen Situationen bin ich doch froh, hier hergezogen und hier geblieben zu sein. Tatsächlich leben viele Freunde hier. Kennst du dieses feldgraue neue Haus an der Goebenstraße Ecke Potsdamer Straße? Da ist die Prometeo-Pizzeria und zwei Häuser weiter dieser Neubau, ich nenne es feldgrau, das ganze Haus sieht so ein bisschen nach Armeekleidung aus. Das Haus ist ein Bauprojekt, da wohnt eine Freundin von mir, die ich schon seit Ewigkeiten kenne. Sie hat in Wien als Soziologieprofessorin gearbeitet und sich hier nun eine kleine Wohnung in Berlin genehmigt. Sie haben das Projekt nicht genossenschaftlich, aber als Eigentümergemeinschaft umgesetzt. Sie hat eine tolle kleine Wohnung. Das Haus ist super intelligent gebaut, hat einen Fahrradschuppen zu ebener Erde und einen Aufzug, mit schönemn Blick ins Hinterhofareal. Mit ihr kann ich von meinem Schlafzimmer aus mit Taschenlampen Blinksignale austauschen. Im Winter geht das, im Sommer wahrscheinlich nicht wegen der dichten Begrünung des Hofes. Da wohnt also sie, du hier, andere Freunde im Willmanndamm, in der Großgörschen- und in der Akazienstraße.

HH: Vor ein paar Wochen habe ich den Rohbau eines Projekts der Schwulenberatungsstelle auf der Schöneberger Linse besucht. Ihr Angebot richtet sich an ältere alleinstehende schwule Männer sowohl im frei finanzierten Bereich als auch mit Sozialwohnungen. Wenn ich eines Tages nicht mehr so beweglich bin, muss auch ich über eine neue Wohnung im Alter nachdenken. Ich stehe nun auf der (sehr langen) Liste. Aber die nächsten sieben Jahre will ich hier wohnen und arbeiten.

GP: So ein Listenprogramm gibt es hier auch. Ich bin ja hier GEWOBAG. Kennst du das Wohnungstauschprogramm der landeseigenen Wohnungsunternehmen? Die organisieren auch Tauschprojekte zwischen klein und groß oder jung und alt.

Die Präpositionen gehen verloren. Wir lachen beide, wiederholen, im Chor, „ich bin GEWOBAG“

GP: Jetzt habe ich vier Treppen ohne Aufzug. Eines Tages könnte ich auch auf die Idee kommen und meine Wohnung tauschen. Irgendwann brauche ich nur noch ein Zimmer, aber dann, weil ich vielleicht nicht mehr so gut laufen kann, einen Aufzug. Die Nachfrage ist in beiden Richtungen groß und wird bestimmt noch wachsen. Ich bin jetzt 62 und werde mit Sicherheit bis 70 arbeiten, um einigermaßen über die Runden zu kommen, vorausgesetzt ich bleibe einigermaßen in Schuss, wofür ich viel tue, du auch, wir sind junge alte, gewiss auch durch eigenes Verdienst.

Ich arbeite nach wie vor gern. Aber die Arbeiterei in fortgeschrittenem Alter hat natürlich ihren Preis, der sich mit lebensfernen politischen Ideen nur begrenzt verträgt. Ich brauche zum Beispiel für die Fahrten zu den Trauerfeiern ein Auto. Das muss ich auch irgendwo abstellen können. Ich verstehe sehr gut, dass die Innenstädte autoärmer sein sollen. Sobald ich nicht mehr Trauerreden machen muss, werde ich das Auto abschaffen und auf CarSharing umsteigen. Aber solange ich Hausbesuche mache und Trauerfeiern, in Berlin und Umgebung, in Friedwäldern und auf dem Lande, ist das völlig unmöglich. Ich kann auch in der Stadt nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Trauerfeiern fahren, administrieren und dann mit öffentlichen Verkehrsmitteln wieder zurückfahren. Ich kann das nicht. Ich brauche, um in die Verfassung zu kommen, in der ich meine Arbeit sinnvoll mache, und auch nach einem Hausbesuch, meine Blechbüchse als Schutzraum um mich herum und kann nicht sofort wieder unter die Leute.

Ein anderes politisches Missverständnis ist das Beharren auf interesseloser Wohltätigkeit. Ich habe ein paar Jahre versucht, neben meiner Arbeit mich ehrenamtlich zu engagieren. Ich kann das nicht mehr. Wenn ich aufhöre zu arbeiten und noch so fit bin wie jetzt, werde ich sicher wieder viel Zeit und Energie haben, um mich zu engagieren. Aber im Augenblick bin ich froh, wenn ich am Wochenende ein bisschen meine Ruhe habe und vielleicht meine Kinder zum Brunch hier habe oder Freunde besuche oder zu einem Konzert gehe. Und da ich auch nicht mehr so schnell bin mit dem Arbeiten, hab ich auch nur selten richtigen Feierabend und meistens nicht vor acht Uhr.

Die Idee, dann noch mit irgendwelchen Leuten gemeinnützig etwas zu tun und in engen Räumen zu sitzen und mir die feinen Ideen älterer Herren und anderer Zeitbesetzer anzuhören, die sich ausmären, tut mir leid, ich übertreibe das jetzt, ich hab wirklich viel Zeit schon mit so etwas verbracht, aber ich möchte das nicht mehr. Anders könnte es aussehen, wenn ich dann mit 67 oder 70 von der Rente leben kann und noch unternehmungslustig bin.

HH: Ich bin etwas älter und seit Juli 2019 Rentner, aber ich werde so lange wie möglich als Autor weiter arbeiten.

Ich würde jetzt gerne über deine Arbeit als Trauerrednerin sprechen. Wie hat sich unter den Bedingungen der Pandemie die Arbeit als Trauerrednerin verändert? Welche Folgen hat die Pandemie für Trauer, für Not, für Trostlosigkeit und Angst?

GP: Puuuh, das ist sehr schwer zu generalisieren.

HH: Ich bitte dich auch nicht darum zu generalisieren. Was ist dir in den nun über zwei Jahren aufgefallen?

GP: Am Anfang waren alle sehr nervös. Ich auch. Ich bekam in einem Monat eine Absage nach der anderen und als ich dann nichts Anderes hatte, wurde ich sehr nervös. Ich hab dann diese Zuschüsse beantragt. Ohne sie hätte ich das nicht aufrechterhalten und über die Runden kommen können.

Nun hat sich das alles wieder geändert. Man kann wieder Trauerfeiern organisieren. Schlimm finde ich, wenn die Familien ihre Angehörigen nicht im Krankenhaus besuchen können. Ich höre oft, dass Leute nicht wissen, was zuletzt mit ihren Angehörigen geschehen ist. Das führt zu einer schlimmen Trostlosigkeit und Verzweiflung. Auch beim Trauern können wir von Gelingen sprechen, jedenfalls dann, wenn es einen guten Abschied gegeben hat. Natürlich gibt es auch Unfälle und Selbstmorde, wo es keinen Abschied gegeben hat. Die Trauer fällt sehr anders aus, wenn man sich nicht verabschieden konnte. Ich merke das immer an einer Frage, ich stelle immer als letzte Frage in meinem Vorgespräch die Frage: Wenn Sie sich vorstellen, dass die verstorbene Person noch einmal in guter Verfassung zu Ihnen hereinkommt und Sie dürften ihr noch mal etwas sagen, was würden Sie ihr sagen? Das löst bei vielen Leuten ganz viele Emotionen. Ich frage sie das nicht, damit ich diesen Satz in meiner Trauerrede sage, sondern für sie, damit sie die Situation, die Vorstellung noch einmal resümieren und sich so ihrer Gefühle bewusst werden.

Bei denen die sich verabschieden konnten, wird diese Frage ganz gelassen aufgenommen. „Ich habe eigentlich alles gesagt“ oder es kommt noch einmal, „dass ich sie liebe oder dass ich sie vermisse“. Aber wenn das nicht passierte, wenn es keinen Abschied gegeben hat, dann brechen Menschen unter dieser Frage fast zusammen. Die Frage ist nicht leicht zu stellen, sie braucht auch eine dafür geeignete Situation. Die muss man erspüren. Die Frage selbst hilft dann im Prozess der Trauer.

Im Frühjahr nach dem ersten Coronawinter, da hatte ich zwei furchtbare Fälle hintereinander, die mir zeigten, wie schlimm diese Pandemie die Jugend trifft. Da hatten sich zwei junge Mädchen das Leben genommen. Im ländlichen Raum, nicht in der Stadt. Beide waren ungeheuer tüchtig. Beide hochsensibel – und belastet. Sie hatten sich früher schon die Arme geritzt. Beide waren deswegen in Behandlung. In der Pandemie ist ihnen zusätzlich zu allem anderen ihr regelmäßiger Tagesrhythmus weggebrochen. Und durch das Wegfallen von Sozialkontakten außerhalb des Elternhauses wussten sie einfach nicht mehr aus noch ein. Da sind auch die Eltern verzweifelt. Das ist wirklich trostlos. Das kam zu all der Trostlosigkeit, die es auch sonst natürlich auch gibt, hinzu.

Es gab auch den Fall, wo ich von den Töchtern einer verstorbenen alten Frau kein einziges positives Wort zu ihrer Mutter hörte. Das gibt es auch. Die hatten einfach eine schwierige Beziehung. Dann sitzt man da davor. Aber auch da haben diese Coronasituation und die fehlenden Besuchsmöglichkeiten die letzten Chancen für Konfliktgespräche oder persönliche Gespräche oder beides, die noch da gewesen wären, zunichte gemacht, einfach weggemacht, verbarrikadiert, genau: verbarrikadiert.

HH: Wie erlebst du im Kontrast zu diesen Erfahrungen das kalte epidemiologische Geschwätz von Durchseuchung oder Herdenimmunität (lacht), wo unter dem Vorwand von zu erhaltenden Freiheitsrechten dem Schnitter Tod Tür und Tor geöffnet werden in der Hoffnung, dass das alles schneller über die Bühne ginge und über uns hinweg fliegen würde.

GP: Ich erlebe das als eine hartherzige Erlösungssehnsucht. Ja, die kommt in der Epidemie nur stärker zum Ausdruck. Aber es gibt grundsätzlich ein viel zu großes Einverständnis mit dem Tod gerade bei den jüngeren Menschen. Auch das ganze Sterbehilfezeug ist wirklich schlimm. Die sind so schnell dabei mit dem Vorwand, ein Leben in diesen oder jenen Umständen sei nicht mehr lebenswert. Ich finde das furchtbar. Es geht auch – anders als eine krude, aber anerkannte Sterbepsychologie es will – nicht darum, dass wir uns mit dem Tod versöhnen. Wir sollten uns mit dem Leben versöhnen, aber doch nicht mit dem Tod!

Anonyme Beisetzungen

Man muss doch nicht den letzten Trost, den der Protest gegen den Tod noch bietet, auch weg haben! Lange Zeit habe ich gedacht, das sei ein Phänomen der Kriegsgeneration gewesen und der Kriegskindergeneration, die scharenweise anonyme Beisetzungen suchen. Ich erlebe diese zeitweilige „Mode“ der anonymen Beisetzzungen als eine Selbstentwertung. Menschen geraten nach all den Jahren, in denen man versucht hat, mit der Schuld zu leben oder sie irgendwie abzuwehren, dann doch, gerade weil man sich damit nicht auseinandergesetzt hat, in den Selbstentwertungsstrudel. Dass es sie nicht gegeben haben sollte, das ist doch die Botschaft.

Da gibt es nun – glücklicherweise – einen kleinen Trend in die andere Richtung. Die jüngeren Leute sind manchmal sogar dazu bereit, ihren Eltern zu sagen, das kommt nicht infrage, wenigstens „halb anonym“ soll es sein, da soll dein Name auf der Tafel einer Urnengemeinschaftsstelle stehen. Das finde ich gut. Das ist eine gute Tendenz. Das sagen mir auch die Friedhofsleute, dass es jetzt weniger vollanonyme und mehr halbanonyme Gemeinschaftsgrabstätten gibt. In Stahnsdorf gibt es dafür Grabpatenschaften. Auch auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in der Chausseestraße gibt es Grabpatenschaften. Dafür wählst du dir von irgend einem halb berühmten Intellektuellen ein Grab, das eigentlich abgelaufen ist. Du denkst, es soll bleiben, dafür zahlst du spendenhalber einen Teil der Unterhaltskosten für das Grab – und zum Dank kannst du dann eines Tages neben diesem berühmten Grabstein beigesetzt werden, dein Name wird als der eines Mitspenders auch irgendwo eingraviert. Das ist eine schöne neue Sitte. Ich finde das einen Beitrag zur Kultur und es ist gut und richtig. Wenn man dann seinen eigenen Namen noch irgendwohin schreibt, dann macht man etwas manifest – man unterstützt den lebendigen Wunsch, dass etwas von uns bleiben möge.

HH: Kennst Du den Roman „Tina oder über die Unsterblichkeit“ von Arno Schmidt?

GP: Nein?

HH: Da erhält ein leibhaftig lebender Autor die Einladung zu einem Besuch im Jenseits. Und als erstes sieht er ein paar riesige Gotenkönige, die mit ihren Keulen einem krummbeinigen langbärtigen Mann hinterlaufen. Der kleine Mann ist Felix Dahn und mit seinem Roman „Ein Kampf um Rom“ macht er es den Gotenkönigen unmöglich, endlich aus dem Jenseits zu verschwinden. Das ist den Gestorbenen erst vergönnt, wenn auch das letzte Steinchen oder Dokument, das ihren Namen trägt, von der Erde verschwunden ist.

Wie tröstlich ist das Lachen im Trauern.

GP: Das Lachen und das Trauern und das Essen gehören zusammen. Kürzlich hörte ich von einer siebenbürgischen Familie zum ersten mal das schöne Wort „Tränenbrot“. Erst singen sie aus dem lutherischen Gesangbuch, dann laden sie zum Tränenbrot. Das hat sich wie manche Gebräuche und mancher schöne Ausdruck in der diasporischen Enklave erhalten – und ich fühle mich davon beschenkt. So finden Tränen, Essen und Lachen beim Tränenbrot zusammen. Es ist der Seele wie dem Leib und dem Umarmen bekömmlich.

HH: Vielen Dank!

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