Im Windschatten der Geschichte und der quietschenden Gisela – ein Gespräch mit dem Künstler, Lehrer und Kleingärtner Klaus Trappmann

Dieses Gespräch führt uns Jahrzehnte zurück und ermöglicht so einen anders grundierten Blick in die nächste und übernächste Zukunft. Das liegt natürlich besonders darin begründet, dass mein Gesprächspartner Klaus Trappmann über so viele Talente verfügt und entsprechend viel erzählen kann. Schnallen Sie sich bitte an, jetzt geht es auf eine Zeitreise.

HH: Hallo Klaus, schön, dass das geklappt hat. Du bist 1948 in Wuppertal geboren worden.

KT: Das ist richtig.

HH: Bist Du auch in Wuppertal aufgewachsen?

KT: Nein, wiir lebten in Wülfrath, auf halber Strecke zwischen Wuppertal und Düsseldorf. In Mettmann bin ich am Konrad-Heresbach-Gymnasium zur Schule gegangen. Mit 18 Jahren bin ich, sehr jung, 1966 nach Berlin gegangen. Vorher gab es ein sogenanntes Kurzschuljahr.

HH: Das habe ich auch mitgemacht. Zwei kurze Jahre.

KT: Richtig und dadurch wurde mir ein halbes Jahr geschenkt, so dass ich schon im Winter 1966 in Berlin landete als Student der Theaterwissenschaften mit Germanistik, Philosophie und Kunst.

HH: Dann hast du auch bei Henning Rischbieter studiert?

KT:

Nein. Der Lehrstuhlinhaber Wolfgang Baumgart, übrigens Rottenführer bei den Nazis, war nie da, er war krank. Standardwerk war ein Buch von Hans Knudsen, einem ausgesprochenen Brechtverächter. Zwei junge Assistenten, einer war Harald Zielske, machten da ihr Zeug. Die brieten da ihre Batwurst und während man in der Institutsbibliothek las, zogen die Bratendüfte durchs Haus. Dieser Zustand hat auch dazu geführt, dass die Schaubühne gegründet wurde. Die Studenten waren so enttäuscht von der Theaterwissenschaft und hatten 1962 die Schaubühne am Halleschen Ufer gegründet. Die wollten etwas Ordentliches machen. Ich war ein ganz großer Fan des zeitgenössischen Theaters, Peter Weiss oder Armand Gatti, Giorgio Strehler usw

Ich war ein ganz großer Fan des zeitgenössischen Theaters, Peter Weiss oder Armand Gatti, Giorgio Strehler usw.

Mein erstes Seminar aber war die Bühnenbeleuchtung bei Shakespeare und dann Goethes Weimarer Theater. Das war alles so langweiliges uraltes Zeug, was mich gar  nicht interessiert hat. Das war Mist, so dass ich dann 1967 schon einen Hauptfachwechsel beantragt hatte, von Theaterwissenschaften zu Germanistik bei Professor Lämmert. Das wurde auch genehmigt. Meine tiefe Enttäuschung über die Theaterwissenschaft habe ich in diesem Antrag zum Ausdruck gebracht. Ein weiterer Anlass war auch der Tod von Benno Ohnesorg

HH: … bei den Demonstrationen gegen den Schah von Persien …

KT: … ja, da bin ich vor der Deutschen Oper gewesen und habe auch den Schuss gehört in der Krumme Straße. Am nächsten Tag war dieses Seminar, alle waren aufgewühlt. Und da dachte der Assistent, die beste Reaktion darauf sei, einfach weiterzumachen wie bisher, und wollte über Goethe und Weimar sprechen. Daraufhin haben mehrere Leute das Seminar verlassen. Das war der unmittelbare Anlass, das Fach zu wechseln.

HH: In solchen Situationen politischer Aufgewühltheit waren die Vorlesungen von Klaus Heinrich ja immer ein Ort, wo auch außerhalb des Faches liegende Themen ausführlich zur Sprache gebracht wurden. Ich erinnere mich noch daran, wie er in einem Erinnerungsband an den Theaterregisseur Jürgen Fehling über die Inszenierung von Sartres Fliegen im Hebbel-Theater schrieb. 1948 war das. Diese Inszenierung war für die Studierenden der Friedrich-Wilhelms-Universität – noch war sie nicht nach Humboldt umbenannt worden – ein Signal, darüber nachzudenken, wovon sie denn durch die alliierten Besatzer befreit oder vielleicht auch nicht befreit waren. Die sowjetische Kulturadministration sah das natürlich anders und nach den Studenten wurde mit Haftbefehl gefahndet. Das war der Gründungsakt der Freien Universität, zu deren studentischen Mitgründern Klaus Heinrich gehört hatte. In dieser Logik hat er im Grunde zeit seines Lebens, erst als Student, dann als Wissenschaftler und Professor die Figur des denkenden Zeitgenossen vorgeführt. Er ist ja im Hörsaal vor dem Auditorium immer hin und her gelaufen wie ein taktgebendes Pendel seines Denkens, hin und her. So kam man auch als Zuhörer durch sein Denken in einen schwebenden dialektischen Bewegungsprozess. Sorry, dass ich das ausführlich anspreche …

KT: … nein, nein, das ist gut, dass du das machst, das ist sehr interessant. Die Situation war ja damals an der Uni folgendermaßen: wir hatten auf der einen Seite berühmte Professoren wie Wilhelm Emrich und Peter Wapnewski. Ich war auch bei Wolfgang Fritz Haug, damals ein junger Professor. Dann natürlich auch bei Jakob Taubes und Margherita Brentano. Das waren alles spannende Leute.

Die etwas ältere Generation der Studierenden hatte diese Ordinarienuniversität abgelehnt, auch die klassische Form der Vorlesung. Dann wurden plötzlich Skripte ausgeteilt. Es gab Tutoren, die dem Professor in seinen Vorlesungen zur Seite standen. So entstand eine neue Art des Lernens. Klaus Heinrich fiel da völlig raus. Der teilte kein Skript aus. Er war damals ein Geheimtipp. Ich hatte gar nicht Religionswissenschaft belegt, aber alle meine Freunde gingen dahin. Mit Heinrich war da jemand, der vor uns, vielleicht auch mit uns dachte. Der Prozess des Denkens, des Nachdenkens wurde mit ihm so erlebbar. So kannte ich das bis dahin gar nicht. Das Lernen wurde anders erlebbar. Er deckte ein ungeheueres Spektrum ab, das von Sigmund Freud bis zum Religionsmythologischen reichte. Und Heinrich verband das alles mit einer unglaublichen Souveränität. Man hatte das Gefühl, man wohnte einer Neuschöpfung bei. Bei mir lief er nicht so rum, sondern saß einfach auf einem Stuhl, etwas erhöht vielleicht sogar. Wir waren ja sonst aufmüpfig, aber da waren wir ganz andächtige Zuhörer. Das fiel völlig raus aus dem gesamten Eindruck, den die Uni sonst auf mich machte.

HH: Hast du im letzten Jahr die Ausstellung mit Zeichnungen von Klaus Heinrich gesehen?

KT: Leider nein. Kunst war ja so ein bisschen verpönt in der Zeit, als ich da war. Ich spielte damals Klavier und Orgel.

HH: Was?

KT: Ich hatte einen Klavierlehrer, der auch Organist in der Kirche war und daher den Schlüssel zur Kirche hatte. Mein Patenonkel war Pfarrer in Schwelm, die ganze Wuppertaler Ecke war sehr protestantisch, da war ich öfters untergebracht.

HH: Mein Vater war reformierter Pfarrer am Niederrhein. An der Schuke-Orgel seiner Bethlehem-Kirche spielte ich sogar einmal die Internationale und eine ältere Frau fragte mich, was das denn für ein Choral gewesen sei, da sagte ich, es sei eine neue Fassung von „Befiehl du deine Wege“.

KT: Die Söhne von meinem Patenonkel Willi spielten alle Orgel, eine richtig große Orgel. In Wülfrath, wo ich damals lebte, gab es nur eine relativ kleine Orgel, aber immerhin hatte ich den Schlüssel und musste dann auch diese völlig andere Art zu spielen lernen. Beim Klavier ist es lauter, wenn du drauf haust, das geht bei der Orgel nicht. Da kommt nur Luft oder keine Luft …

HH: … und für die Pedale brauchst du glatte Ledersohlen …

KT: … das ist richtig. Und wenn du dann den Fuß zu lange drauf lässt, dann spielt das einfach weiter. Das ist eine ganz andere Art zu spielen. Diese Choräle sind mir sehr vertraut. Und wir hatten auch, das ist ja bei den Protestanten so – einen Posaunenchor. Mit meinem Lieblingsonkel Paul habe ich die Partitur der Matthäuspassion von Bach studiert. Und das verschwand in den ersten Jahren in Berlin an der FU aus meinem Leben. Das war nicht sehr kunst- und nicht sehr musikorientiert. Das stand eher unter Generalverdacht bürgerlicher Gepflogenheiten. Klaus Heinrich aber, das war wirklich ein Erlebnis. Ich hatte auch diese beiden Bücher von ihm – „Parmenides und Jona“ und „Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen“, die stehen noch heute bei mir im Regal. Das war ein ganz ungewöhnliches Erlebnis.

Ich bin da jetzt nicht sehr oft gewesen, weiß aber, dass die Leute sehr andächtig an seinen Lippen gehangen haben. Manche haben schon damals Tonaufnahmen gemacht. Was auch vielleicht wichtig ist in meinen Erinnerungen, sind die Chilenen, die alle wieder kamen nach dem Tod von Allende beim Miltärputsch von 1973. Sie fanden alle an diesem religionswissenschaftlichen Institut einen Ort, wo sie aufgenommen wurden und auf irgendeine Weise ihre Existenz fristen konnten. Ein Freund aus dieser Zeit ist Claudio Lange, ein chilenischer Schriftsteller und Maler, von dem ich auch sehr viele Bilder hab, der hat bei Klaus Heinrich promoviert. Ein anderer war Alejandro Venegas, der dann in Liechtenstein lebte.

HH: Was du eben erzähltest, erinnert mich an einen Sammelband, den die Heinrich-Schülerin Renate Schlesier herausgegeben hatte. Darin gab es einen großen Essay von Klaus Heinrich über „Das Floß der Medusa“. Darin schlug er einen Bogen vom Géricault-Bild bis zur Nachkriegskunst, einen großen historischen phänomenologischen Bogen in die Gegenwart bis hin zu jener Figur in der sixtinischen Kapelle, die gegenüber von den Gläubigen hockt, den Kopf auf die Hand gestützt, voller Entsetzen über die Gemeinde der Gläubigen. Das war sozusagen seine Dekonstruktion von Bildern, auf die er in einer Vorlesungsreihe zurück kam, die er über „De Rerum Natura“ von Lukrez gehalten hatte. In diesem Kontext verkörperst du mehrere Traditionen, die schon in deiner Begegnung mit Heinrich ende der 60er Jahre angelegt war. Du bist Gärtner, Lehrer und audiovisueller Künstler. In dieser Dreieinigkeit hast du dich von den ausgelatschten Pfaden abgewandt und gehörst folgerichtig auch zu den Gründern einer freien Schule in Berlin. Wie kam es denn dazu?

KT: Das ist eine interessante Geschichte. Ich bin ja im Zuge der Orientierung der Studenten in Richtung Arbeiterbewegung ein Jahr in die Fabrik gegangen und war bei Solex in der Heidestraße Vergaserfräser und wollte da die frohe Botschaft der proletarischen Revolution verbreiten. Aber das war hauptsächlich ein Frauenbetrieb. Da konnte man sich gar nicht nach der Arbeit treffen, weil die Männer warteten schon und wollten ihre Frauen abholen. Und dann war das ja bei den meisten so, es hieß ja immer „der lange Marsch durch die Institutionen“, dass man dann doch einen Beruf ergreift und dafür das Studium abschließt. Ich wollte Lehrer werden und über Fontane schreiben. Fontane hatte ich kennengelernt, das ist auch interessant, im sogenannten Fünfer-Seminar während der Kritischen Universität. Da gab es ältere Studenten, die einen Tutorenjob hatten und dann dieses Seminar beantragt haben. Frieder Rothe, Norbert Haas, der Lacanist, und Helmut Lethen, bei dem ich viel gelernt habe.

Interessanterweise hatten die ja dann Themen, die eigentlich eher in der DDR- Germanistik wichtig waren. Also Vormärz und Heinrich Heine und Börne, die eher unter Journalismusverdacht standen und nicht zur hohen Literatur zählten. Da habe ich viel gelernt und dann gab es aber irgendwann auch eine Fortsetzung zu Fontane. Als ich das dann anfing, sagte mir Klaus Hartung, ich soll doch mal Kontakt aufnehmen zu Grune, dem ehemaligen AstA-Vorsitzenden, und Karin Kerner, eine der sehr schönen Frauen der Studentenbewegung. Es gibt übrigens ein sehr schönes Foto von ihr neben Alejandro Venega beim Teachin mit Herbert Marcuse anläßlich des Vietnamkongresses, eine Ikone. Jedenfalls sagte Hartung, die würden eine Arbeit machen über Agitprop-Theater. So stieß ich zu denen dazu als dritter und wir machten eine kollektive Doktorarbeit. Professor Bauer war unser Doktorvater. Der war ja als Schüler in der NAPOLA und hatte sich dann habilitiert über Heidegger. Plötzlich war er ganz links und hat im Mahler-Komitee unglaubliche Sachen gemacht. Der war unser Doktorvater, und wir hatten drei Abteilungen in dieser Doktorarbeit: Agitprop-Theater, dann Friedrich Wolf und die Bauernagitation im Umland von Stuttgart. Ich hatte die Abteilung revolutionäres Berufstheater, also Theater von arbeitslosen Berufsschauspielern und Regisseuren. Zwei Jahre haben wir daran gearbeitet, aber wir waren so dumm zu sagen in den Zwischenberichten, dass wir nicht unbedingt wissenschaftliche Ambitionen hätten. Wir wollten alle unsere Ergebnisse dem kämpfenden Proletariat zur Verfügung stellen. Dann wurde uns das Stipendium gestrichen. Wir waren aber noch nicht fertig und haben uns verheddert. Das ist gar nicht so einfach, als Kollektiv zu arbeiten. Ich hatte dann bei diesen Promotionsrunden eine Frau kennengelernt, Hannelore Wolff, die arbeitete über nationalsozialistische Thing-Spiele. Die hatte die These, dass das ja das gleiche ist, also die nationalsozialistischen Massenveranstaltungen und nationalsozialistischen Thing-Spiele. Heute würde ich zum Teil zustimmen. Aber damals hat man das sehr abgelehnt. Rot gleich braun – das ging gar nicht.

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Die sagte, da gibt es so eine Schule für Erwachsenenbildung, gerade gegründet und geh doch da mal hin. Dann habe ich tatsächlich das ganze Doktor-Kollektiv mitgenommen, zu dritt haben wir da angefangen. Interessanterweise landete ich da ohne Befragung über meinen proletarischen Hintergrund, den ich gar nicht hatte, über die Grammatik. Einer sagte mir, die Schüler wollten alle Grammatik machen, er wolle und könne das nicht, das sei reaktionär. Och, sagte ich, das kann ich sehr gut als ehemaliger Lateinschüler am Gymnasium. So landete ich über die Grammatik an der Schule und bin da ja noch heute. Hans Jürgen Grune war auch ziemlich lange da, der wollte aber dann eine klassische Psychoanalyse machen und wurde Taxifahrer im Taxikollektiv, das war damals eine beliebte Tätigkeit für Studenten und so nebenbei machte er seine Analyse. Karin war noch sehr lange an der Schule und hat mit mir mehrere Ausstellungsprojekte gemacht. Später hat sie einen kleinen Verlag gegründet, Traum und Raum, in dem sie Ausstellungskataloge zu mehreren Berliner Ausstellungen gemacht haben.

So sind wir an die Schule gekommen und die Schule überlagerte dann doch sehr alle Doktorambitionen. Das hat uns voll in Beschlag genommen und hat uns unheimlich viel Spaß gemacht. 1979/80 kam dann die Idee auf, dass man ein Gebäude kauft. Bis dahin waren wir in so einer ollen Büroetage in der Nähe der Ufa-Fabrik. Und dann haben wir Geld gesammelt und verschiedene Gebäude angeguckt. Dann gab es einen Tipp vom Bezirksamt Kreuzberg. So standen wir vor diesem Gebäude von der berühmten Firma Berthold, berühmt für den Bleisatz in Berlin, schon 1850 gegründet. Schriftsetzer, Designer und Layouter wissen bis heute, wer das war. Die haben sehr schöne Buchstaben geschnitten. Das Gebäude war viel zu groß für uns alleine. Dann gab es aber mehrere Projekte, das Ex und das Specki und das Netzwerk Selbsthilfe, das Stattbuch und alle möglichen Projekte, die sich zusammengetan hatten. Auch das Mehringhof-Theater und die Lateinamerika-Nachrichten und dann haben wir dieses Gebäude für 1,8 Millionen Mark gekauft.

HH: Das wurde der Mehringhof.

KT: Hauptaktivist war mein Kollege Rainer Nitsche, der dann im Mehringhof den Transit-Verlag gründete. Ein Notar und ein Steuerberater haben uns beraten, welches Modell für die Finanzierung geeignet war, eine gemeinnützige Gesellschaft für beschränkte Haftung (gGmbH). Auch Bernd Häussler war maßgeblich beteiligt Geleitet wurde das ganze von der Mieterversammlung, jeder Mieter hatte eine Stimme. Das ganze lief unter dem Begriff der Kapitalneutralisierung. Man sollte Besitzer sein, aber zugleich aus dem Besitz keinen Profit schlagen. Dieses Wort habe ich dann bei Beuys auch auf einer Tafel in der Neuen Nationalgalerie entdeckt, da steht auch Kapitalneutralisierung.

 

HH: Aber immerhin bekamen die Geldgeber steuerlich nutzbare Verlustzuweisungen.

KT: Ja, das ist richtig. Bis heute zahlen wir keine Steuern aus Gewinn durch Vermietung. Wir dachten damals, irgendwann ist es bezahlt und dann kostet das keine Miete mehr. Aber dann gab es natürlich auch Kosten: der Fahrstuhl, das Dach und die Fenster. Das musste ja alles gemacht werden, also es ist vernünftig, minus zu machen und keinen Gewinn. Wir müssen natürlich auch auf die Gemeinnützigkeit achten. Man ist gar nicht so frei, weil das Finanzamt genau prüft, ob die Regeln der Gemeinnützigkeit auch befolgt werden. Das Modell funktioniert bis heute. Die Schule ist immer noch das größte Projekt. Die meisten Projekte sind eigentlich mehr Büros. Wir sind eine Schule mit über 200 Schülern und Hunden, die alle so ein bisschen Chaos produzieren.

HH: Eure Schüler sind aus dem regulären staatlichen oder privaten Schulsystem raus geflogen oder geflohen?

KT: Beides, geflogen und geflohen. Meist sind es brüchige und gewundene Bildungsbiografien. An unserer Schule kann man die noch mal ändern. Wir haben zum Beispiel auch Mittlere-Reife-Kurse ohne vorherigen Hauptschulabschluss, in einem Jahr kann man das machen. Dann kann man auch an der Schule bis zum Abitur bleiben. Ich habe Schülerinnen und Schüler, die hatten gar kein Papier und nach drei oder vier Jahren studieren die dann. Wir haben denen zum Beispiel von Klaus Heinrich erzählt und dann haben die Religionswissenschaften studiert. Was wir denen erzählt haben, hat sie dafür begeistert.

HH: Das steckt an.

KT: Ja, so war das. Das Besondere an der Schule war und ist, dass man seine persönlichen Leidenschaften und Interessen einbringen kann. Ich erzähle viel auch über meine Radiosachen und Ausstellungen.

An der Schule lernte ich übrigens eine Englisch-Lehrerin kennen, schon etwas älter als wir, das war die Renate Gerhardt.

HH: Die Verlegerin?

KT: Ja, die Verlegerin. Die war begeistert von der Schul-Idee, aber auch pleite, so dass sie da arbeiten musste. Wir haben uns sehr schnell angefreundet. Meine Erzählungen über ein Vagabundentreffen im Jahr 1929 in Stuttgart haben sie interessiert und begeistert. „Da musst du unbedingt ein Buch draus machen, ich verlege das.“ Dafür bin ich 1977/78 nach Dortmund gefahren ins Archiv für Arbeiterliteratur. Da gab es viele Unterlagen, weil Hans Tombrock, der Obdachlosen-Maler, da im Ruhrgebiet gelebt hat. Über Agitprop-Theater fand ich da gar nichts, aber viel über diesen Vagabundenkongress. Das hat mich fasziniert. Manche sprachen da vom Lumpenproletariat, das war gar nicht gut gelitten als Reservearmee des Kapitals. Dazu habe ich recherchiert und dann gab es ein Buch im Verlag von Renate Gerhardt, „Landstraße, Kunden, Vagabunden“ (1980), wunderbar layoutet von Christian Chruxin. Er war ein sehr ungewöhnlicher Layouter, der auch an der Uni lehrte. Später meldete sich Michael Haerdter vom Künstlerhaus Bethanien und sagte, wir machen dazu eine Ausstellung und beantragen dafür eine Lotto-Förderung, die wurde tatsächlich genehmigt, so dass wir dann beim Verlag Fröhlich und Kaufmann einen Katalog machen konnten. Keiner hat uns kontrolliert, als dann die Rechnung kam, fielen die alle in Ohnmacht.

Über einen anderen Kontakt lernte ich Hagen Müller-Stahl kennen, er war der große Bruder von Armin. Der fand das Thema interessant und wollte darüber einen Film machen. Gibt es da Zeitzeugen, leben die noch? Mit der Idee gingen wir zum SFB drei, damals ein spannender Sender, zu Lothar Kompatzki. Der wollte das haben und so fuhren wir beide auf Recherchereise und danach im Sommer auf Drehreise. Ich glaube 1980/81 kam dann dieser Film raus, zwei Teile, jeweils 60 Minuten.

Vorher hatte ich gesehen, es gab einen Film aus den Jahren 1931/32. Der lagerte in Amsterdam in einem Filminstitut, von Joris Ivens gegründet. Das war eine Nitro-Kopie …

HH: Gefährlich!!!

KT: … und der musste erst restauriert werden. Das kostete ungefähr 15.000 DM und der Sender hat das bezahlt.

HH: Hey, das waren noch Zeiten!

KT: In der Tat! So konnte auch der Film gezeigt werden. Wir haben das gekauft, ohne zu wissen, was das ist, und das war zum Glück brauchbar. Zum Beispiel Aufnahmen des Obdachlosen-Asyls des Berliner Asylvereins in der Wiesenstraße im Wedding. Es gab nur sehr wenig Filmaufnahmen von Obdachlosen-Asylen. Die konnten wir in unseren Film einbauen. Außerdem hatten wir natürlich auch den ganzen Film gezeigt. Der Ton war leider verloren. Achim Bärenz, ein Klavierspieler, der Stummfilme begleitete, der hat das dann neu eingespielt.

HH: Ich muss noch mal einen kleinen Schritt zurücktun zu Renate Gerhardt. Aus ihrem Verlag habe ich den Band von Gail Holst zur Rembetika-Musik, mit dem Untertitel „lieder von liebe, haschisch und vom überleben“ aus dem Jahr 1975. Ist durch sie deine Verbindung zu Griechenland angeregt worden?

KT: Umgekehrt. Ich bin nicht nach Griechenland gefahren in der Zeit der Militärjunta. Viele Leute aus der Studentenbewegung sind damals besonders gern nach Jugoslawien gefahren, da traf man sich manchmal in Split auf dem Marktplatz. Ich hatte eine neue Freundin, die sagte, jetzt ist die Zeit der Junta vorbei, wir fahren jetzt endlich mal nach Griechenland. Wir fuhren mit meinem alten Mercedes 180 Ponton nach Griechenland. Renate hörte von der Idee und war auch begeistert. Ich komme auch hin, wir treffen uns da.

Sie war ja eine Zeit lang zusammen mit dem amerikanischen Autor Henry Miller. Ihr Mann Rainer Gerhardt hatte sich 1954 umgebracht. Sie hatten zwei Söhne, Titur und Ezra, und sie musste Geld verdienen. Für Rowohlt hatte sie die deutsche Ausgabe von Henry Miller betreut. Sie war eine sehr schöne Frau und da haben sie sich gleich verliebt und sind in die Jenaer Straße gezogen, wo Henry Miller viele Aquarelle gemalt hat. Dann kannte sie natürlich, was alle Griechenlandfahrer lesen müssen, Millers „Koloss von Maroussi – eine Reise nach Griechenland“, das Miller 1940 geschrieben hatte.

Auf der Schiffsreise nach Astipalia, einer kleinen Insel des Dodekanes, gab es am Schluss nur noch einen Passagier, der da ausstieg. Man wollte wissen, wer ist das, was will der da. Das war Henning Rademacher. Der studierte in Athen neue griechische Literatur. Er sprach sehr gut Griechisch und erzählte mir von zwei Sachen, die offenbar alle begeisterten: einmal von den Rembetika und von Aris Velouchiotis, einem Partisanen aus den Bergen, der einer Abspaltung der KP angehörte.

Dann gab es ein Buch von Dominique Eudes „die kapetanios“ über den Partisanen- und Bürgerkrieg in Griechenland von 1943 bis 1949.

(Nebenbemerkung HH: Dazu empfehle ich auch den wunderbaren Film „Die Wanderschauspieler“ „O Thiasos“ von Theo Angelopoulos.) Davon habe ich Renate erzählt. Mittlerweile war sie auch auf der Insel gelandet und hatte ein Haus gekauft und dann hat sie dieses Buchprojekt gemacht. Auf der Insel hat sie übrigens auch Erika Jongs Roman „Angst vorm Fliegen“ übersetzt. An sich sollte der berühmte Rembetika-Forscher Elias Petropoulos das Rembetika-Buch machen. Den hatte ich in Paris in der Rue Mouffetard kennengelernt. Das war aber zu schwierig und zu dick, und dann hat Gail Holst das Buch gemacht, auch sehr schön layoutet von Christian Chruxin. Später gab es noch ein sehr schönes Theodorakis-Liederbuch, Tragoudia, auch mit einem Vorwort von Gail Holst. Kostas Papanastasiou, der „Lindenstraßenwirt“ vom Terzo Mondo am Savignyplatz, hat auch dabei geholfen.

HH: Elias Petropoulus habe ich 1978 durch den Übersetzer Helmut Schwäbl kennengelernt. Damals war ich Lektor und Mitverleger im Verlag rosa Winkel und interessierte mich für sein Buch „Kaliarnta“ über die Geheimsprache der griechischen Schwulen. Die griechischen Schwulen haben in Jahrzehnten der Unterdrückung eine eigene Geheimsprache entwickelt, die Elias in seinem Buch dokumentiert hatte. Aus dem Jahr 2015 gibt es einen Dokumentarfilm über „Kaliarnta“. Leider ist Elias zu früh gestorben.

KT: Ich habe Elias 1982 kennengelernt. Damals hatte er und seine Frau Mary Koukoules, als „artists in residence“ ein Stipendium im Künstlerhaus Bethanien. In der Kapelle, im Studio 1, haben sie ein Rembetika-Konzert aufgeführt, für das man unbedingt 500 Gramm Haschisch besorgen musste, für die Rembeten, ohne das ging es nicht. Er hat auch zwei Bücher in Berlin produziert. Der Zufall wollte, dass seine Frau Mary Koukoules auch ein Haus auf Astipalia besitzt.

HH: Das ist ja ein richtig wunderbares Nest!

KT: In der Tat, aber Elias ist nie mehr zurück gegangen. Er hat mit wunderbarer griechischer Handschrift alle Bücher mit der Hand geschrieben. Alles dreht sich um Griechenland, aber er selber hat Griechenland nie mehr betreten. Er sprach von einer geschiedenen Ehe. Manche haben gemunkelt, dass er da irgendwelche Ikonen beiseite geschafft habe und dass er deshalb nicht zurückkonnte.

Er lebte eigentlich für den griechischen Untergrund, ein sehr kundiger Mann und schrieb über alles Mögliche, auch über Friedhöfe, über Gefängnissprache und die Sprache der Schwulen. Er selbst war ja ein großer Erotomane. Die Korkenzieher und Türklinken waren Frauenhintern. Mit Roland Topor zusammen hatte er in Paris das Erotik-Museum gegründet. Das war ein ganz spannender Mann, 2003 ist er gestorben. Ich hab ihn oft besucht, das war nicht immer einfach. Auch in der Zeit des Jugoslawien-Krieges, darüber hat er geschimpft. Die deutsche Luftwaffe hat Belgrad wieder bombardiert.

HH: Das sind wiederkehrende Momente. Die Alten, die die Premiere, den Zweiten Weltkrieg, überlebt hatten, ertrugen das nicht. Ihnen erschien das nur als ein Vorzeichenwechsel, als Reprise des deutschen Militarismus. Es brachte sie aus der Fassung.

KT: Natürlich muss man sehen, dass durch die griechische Orthodoxie eine große Nähe bestand zu den Serben und zu so Finsterlingen wie dem Radovan Karadžić. Die waren eigentlich bei uns schon als Kriegsverbrecher bekannt, aber konnten in Athen noch in die Disco gehen. So war das. Das ist auch heute wieder interessant. Viele Griechen haben eine Nähe zu Putin, weil sie auch Amerika hassen wie die Pest. Die NATO ist für sie ein Verband von Mördern, ohne die auf der Welt kein Friede herrscht. Es ist nicht immer so einfach, mit denen zu diskutieren.

HH: Das ist mir in Erinnerung aus dem Jahr 1978, als ich einen ganzen Sommer mit meinem Freund Klaus auf Zakynthos verbracht hatte. Neun Jahre vorher verbrachte ich mit meinen Eltern den Sommer der Mondlandung auf Veli Losinj. Mein Bruder Michael und ich kampierten auf dem Zeltplatz, meine Eltern mit ihren Freunden im Hotel. Für mich als knapp 16-jähriger war das der Beginn meines eigenen Hippielebens. Meine Haare waren damals doppelt so lang wie deine. Jetzt habe ich nicht mehr so viele.

Von den Hippies und der Kunst in die Gartenkolonie

Was wir in diesem Gespräch begonnen haben, schreit schon jetzt nach einer Fortsetzung. Wir hüpften heute in der autobiographischen Schule des Gelingens von Klippe zu Klippe. Wir sind beide den Pfaden üblicher Karrieren gekonnt aus dem Weg gegangen. Du bist nun wirklich jemand, der unwegsames Gelände gangbar gemacht hat. Aus diesem etwas schiefen Bild heraus versuche ich jetzt so eine Hängebrücke zu deiner Arbeit als Genossenschaftsvorsitzender einer Kleingartenkolonie zu spannen: die POG am Gleisdreieckpark. Das POG steht für den längst vergessenen Namen des Potsdamer Güterbahnhofs, der einst auf dem Gelände des Gleisdreiecks stand. Kürzlich erzähltest du von einem Steinofen, den du dir auf deiner Parzelle gebaut hast und in dem du dein eigenes Brot backst. Vielleicht erzählst du mal, wie du zum Kleingärtner geworden bist.

KT: Das kann ich gerne machen. Dazu kam ich eigentlich über meine Arbeit fürs Radio. Diese Schule für Erwachsenenbildung war eine sehr spannende Arbeit, aber man war doch immer in der Nähe des Prekariats. Von einem alternativen Einheitsgehalt wie die tazler, davon konnte man nicht wirklich leben. Ich habe nicht nur unterrichten wollen und habe für das Radio Features geschrieben. Da muss ich nun einen Namen nennen: Anne Quirin vom SFB. Die kam 1981 zu der Ausstellung „Wohnsitz nirgendwo“

HH: Supertitel übrigens!

KT:… ja, den habe ich gefunden in den Texten der Vagabunden. Anne Quirin wollte mit mir ein Interview machen, am Tag vor der offiziellen Pressekonferenz. Später erinnerte ich mich an den deutschen Exilschriftsteller Georg K. Glaser. Er hatte 1951 ein spannendes Buch geschrieben: „Geheimnis und Gewalt“. Darin geht es unter anderem um obdachlose Jugendliche in den zwanziger Jahren. Den wollte ich besuchen und interviewen. Das habe ich Anne Quirin vorgeschlagen und die gleich: mach das und gab mir so ein riesiges Aufnahmegerät, eine Nagra. Daraus entstand eine erste Sendung von einer halben Stunde über den fast ganz vergessenen Georg K. Glaser. Später erschien das Buch, erst im Verlag roter Stern und in diesem Jahr bei ça ira. Spät wurde Glaser – verdient – sehr geehrt.

Jetzt kommen wir zu den Kleingärten am Gleisdreieck: Klaus Sankt Kleingarten

Anne Quirin kaufte nach der Wende im Osten im Fläming einen Bauernhof. Mittlerweile waren wir sehr befreundet, aber so als intellektuelle Frau wurde man da im Fläming nicht so richtig ernst genommen. Also hat sie mich gebeten, komm doch mal mit, die ganzen Handwerker, die veräppeln mich alle. Da gehörten auch so 4000 m² Garten dazu, Pflaumen- und Apfelbäume, da war ich sehr oft, auch jetzt noch immer wieder, und da habe ich irgendwie an der Gärtnerei Gefallen gefunden. Natürlich lag ich auch gerne in der Hängematte. Anne hat immer gesagt, jetzt kann man das machen oder das, sie kam nicht so viel zur Ruhe. Vorm Grillen hatte sie auch Angst, dass der ganze Laden angesteckt würde. Also, und dann hörte ich über eine Französin von der Judith-Kerr-Europaschule, auf die meine Kinder gegangen sind, von Kleingärten, die zu haben seien, vor allen Dingen für Familien mit Kindern, auf dem Gelände am Gleisdreieck. Irgendwann habe ich dann eine Nummer erhalten von einer Frau Golombek .Die habe ich angerufen, im Winter. Mit dem Taxi fuhren wir dahin, meine Frau und ich. Der Taxifahrer kannte das. Man fuhr hinten am 90° vorbei, die berühmte Straße der Kondome und Tempotaschentücher, der Straßenstrich von der Kurfürstenstraße. Die fuhren da mit dem Auto auf das Gelände. Den Park gabs noch nicht. Man konnte da in schöner Natur im Auto vögeln. Ich weiß nicht, ob das wirklich Spaß gemacht hat, so eng hinterm Steuer.

Aber jedenfalls kam ich dann dahin und Siggi Hölzel war Vorsitzender. Er sah aus wie Gert Fröbe in Zimmermannskleidung, Cordhose und so weiter. Und die zeigten mir dann verschiedene Gärten. Es waren damals mehrere Gärten frei. Ein so ein bisschen schräger Garten gefiel mir. Da habe ich zugesagt und für 5.000 diesen Garten gekauft. Meine Frau, wir lebten damals schon getrennt, kaufte sich einen etwas ordentlicheren Garten für 10.000 . Das hat ihre Mutter aus Paris bezahlt. Im Winter fing ich an zu gärtnern und die Laube einzurichten. Die Kleingärtner haben oft die Eigenschaft, ihre Laube so einzurichten wie ein großes Wohnzimmer mit schweren Sofas und Schrankwänden, mit Gardinen und Übergardinen. Das habe ich alles ausgemottet.

Ab 2006/ 2007 begann die Befragung der Anlieger durch den Senat und Grün Berlin, wie sie sich denn diesen Gleisdreieckpark vorstellten. Damals lernte ich die AG Gleisdreieck kennen, die sich merkwürdigerweise für die kleinbürgerlichen Kleingärtner einsetzte. Das war so ein linker Verein mit Matthias Bauer und Norbert Rheinländer, der auch schon gegen die Westtangente, die Autobahn, gekämpft hatte. Aber die haben zu meiner Überraschung gesagt, wir sind für euch, aber ihr müsst auch selber öffentlich klar machen, was ihr wollt. Dann habe ich unter Bauchschmerzen ein erstes Treffen organisiert zwischen der AG Gleisdreieck und den Kleingärtnern, die ich vorher in einer Jahreshauptversammlung erlebt hatte. Ein absolut wilder Haufen von trinkenden und rauchenden, nach zehn Minuten wild durcheinander gestikulierenden und schreienden Leuten. Das ist doch blanker Wahnsinn, sagte ich mir. Alles ging durcheinander und nichts kommt raus. Aber interessanterweise klappte das Treffen. Die wollten sich am Schluss gar nicht mehr trennen, also die Leute von der AG Gleisdreieck – Norbert Rheinländer und Matthias Bauer, der ja da immer noch in einem ehemals besetzten Haus in der Bülowstr. 52 wohnt. Beide haben jetzt übrigens einen Garten bei uns.

So erfuhren wir, was überhaupt Stand der Dinge war. Dann haben wir uns beim Postfuhramt am Gleisdreieck wieder gesehen, in dem die Befragung der Anwohner stattfand. Die Architekten zeigten ihre ersten Entwürfe. So rutschten wir da rein. Siggi Hölzle, der alte Vorstand, war der Sache nicht mehr so richtig gewachsen. Er war ein herrliches Original, aber wenn man den etwas gefragt hat, dann hat er erst mal tausend Anekdoten erzählt, vom Zweifinger-Joe usw.. Die Fragen aber hat er nie beantwortet. Man konnte ihn auch einfach nach einer Stunde stehen lassen und der hat weiter geredet. Der konnte das nicht. Erst haben die alten Kleingärtner gesagt, die Politiker machen sowieso, was die wollen. Politik ist scheiße und da kann man nichts machen. Danach aber hatten sie mich gefragt, nachdem ich diese Versammlung organisiert hatte, ob ich nicht Vorstand werden wollte. Die Idee, Vorstand der Kleingärtner zu werden, fand ich als Altachtundsechziger ein bisschen komisch.

Dr. Franz Schulz, ein Alternativ-Chemiker, der übrigens auch eine Zeitlang im Mehringhof war, und später erst Bürgermeister, dann Baustadtrat von Kreuzberg, mit dem musste man sprechen. Die Grünen hatten damals Türkiyemsport entdeckt, einen sehr erfolgreichen türkischen Sportverein. Bis dahin hatten die Grünen kaum Interesse an Sport, aber wollten plötzlich die türkischen Fußballer unterstützen. Die sollen auf dem Gleisdreieck einen ordentlichen Sportplatz bekommen. Das hätte, wie Dr. Schulz sagte, zu einem Zielkonflikt geführt. Darum mussten wir mit ihm sprechen und erst einmal eruieren, was geplant war.

Wir wurden als Gast in die Bezirksverordnetenversammlung eingeladen und so begann mein Leben als Bezirkspolitiker. Als Sankt Kleingarten bin ich dann in Schöneberg gewesen, denn die Sportplatzidee wurde von drei Bezirken getragen, Schöneberg, Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg. Die hatten einen unglaublichen Bedarf errechnet, obwohl die bestehenden Sportplätze schon verfielen. Auch der Landessportbund stand hinter dem Plan. Die traten auf im Postfuhramt mit einer Jugendmannschaft im Trikot mit Stulpen, um ihrem Bedarf Ansporn zu geben. Dagegen kamen wir gar nicht an. Die Grünen waren ja damals nicht so an Sport interessiert. Plötzlich erkannten sie da aber eine Chance, Anschluss zu finden, und wollten die türkischen Fußballer unterstützen. Die sollen auf dem Gleisdreieck – auf unserem Gelände – einen ordentlichen Sportplatz bekommen.

HH: So begann ein Konflikt.

KT: … wie Dr. Schulz sagte, ein sogenannter Zielkonflikt.

HH: Kurze Zwischenfrage. Das Milieu der Kleingärtner war ja in der Westberliner Zeit – vor dem Mauerfall – eine sozialdemokratische Domäne, bemuttert von dem Kleingärtner-Schutzheiligen Harry Ristock. So wie ich die Kleingärtner heute erlebe, wirken wie aus der Welt gefallene politisch Heimatlose, aber auch wie ein kleines Dorf der Gallier unter römischer Besatzung, aber ohne Asterix und Obelix. Ist das ein angemessenes Bild, um die heutige Lage zu beschreiben?

KT: Ich glaube nicht, es hat ja ein Wandel stattgefunden. Durch diese Ökobewegung und das Interesse an Tomaten auf dem Balkon und Selbstversorgung – dadurch erhielt das bisher verpönte Kleingartenwesen ein anderes Ansehen. Wir hielten das ja früher für einen Hort kleinbürgerlich-faschistoider Vorstellungen, verpönt und rückwärtsgewandt. Heute sind hier auch Psychologen, Architekten und Lehrer. Das hat sich komplett verändert. Manche von den Alten sind gestorben, die waren Bäcker, Dachdecker, Schweißer, Maurer und Bauhandwerker, richtige Arbeiter. Davon haben wir nur noch ganz wenige in unserer Kolonie.

Die spezielle Geschichte unserer Kolonie, die wirkte ja immer so ein bisschen anarchisch bunt, jeder Garten sah anders aus. Wir haben auch keine Gartenbesichtigung mit Protokoll und Abmahnung und Arbeitseinsatz. Das klappt auch nie so richtig wie in vielen Kolonien und so richtig ordentlich sieht es auch nicht aus. Ich hab mich immer gefragt, dieses anarchische, das ist nicht von uns erfunden, von den linken Socken, die dazu gestoßen sind, sondern das war schon vorher da. Ich glaube, die Erklärung dafür ist, dass das Gelände ja der Bahn-Landwirtschaft zugehört hatte und dass das Gleisdreieck ja sozusagen Niemandsland war, ein Gelände der DDR im Westen. Damals gab es einen S-Bahn-Streik, der wurde durch die DDR-Bahnpolizei auch im Westen niedergekämpft.

Die meisten, die das gegründet und besiedelt haben am Anfang, waren Reichsbahner. Die zahlten keine Pacht und machten, was sie wollten. Das war quasi Niemandsland. Dann habe ich ein Protokoll gefunden. Nach dem Mauerbau gab es in der Bülowstraße eine Versammlung in einer Kneipe und da trat die Bahn-Landwirtschaft-West an die 38 Pächter heran, so viele waren das damals, und sagte denen, sie sollten der Bahn-Landwirtschaft-West beitreten. Dann müssten sie allerdings auch Pacht bezahlen. Darüber wurde heftig diskutiert. Es hing damit zusammen, dass es nach dem Mauerbau eine große Kampagne gab, man solle die S-Bahn boykottieren und nicht mehr S-Bahn fahren, weil die S-Bahn gehört den Mauerbauern. Daher ist damals diese Kleingartenkolonie der Bahn-Landwirtschaft-West beigetreten und zahlte dann auch eine kleine Pacht. Später ist das auf 75 Parzellen angewachsen, wobei ja die U2 von der Bülowstraße an stillgelegt war.

HH: Genau, die U2 endete am Nollendorfplatz.

KT: Die Bülowstraße war ja eine Zeitlang Basar, wovon die alten Türken noch heute sprechen. Da gab es auch Tanz und Disko und alles Mögliche und Trödel. Erst nach dem Fall der Mauer wurde die Linie im Jahr 1992 reaktiviert, was für die Kleingärtner bedeutete, das alle Gärten unter der Bahntrasse aus Sicherheitsgründen geräumt wurden. Im Notfall muss da die Feuerwehr durch. Die Kleingärtner waren gar nicht begeistert. Plötzlich gab es U-Bahn Lärm. Heute ist das unser Hausengel, immer wenn Fotografen kommen, müssen wir uns da aufstellen und dann warten sie, bis die gelbe U-Bahn kommt.

HH: Früher die im Gleis quietschende Gisela der DDR.

KT: Genau. Vor etwa zehn Jahren wurde dann der Westpark eröffnet. Damals war der Regierende Bürgermeister Müller noch Bausenator. Die Bühne stand in der Nähe dieses Parkhauses, wo es jetzt Wohnungen mit den komischen Blumen gibt. Die Bühne war also ziemlich weit weg von den Kleingärtnern. Wir wollten ein Zeichen setzen von den Kleingärten. Dann hatte einer doch tatsächlich professionelle Raketen der Gefahrenklasse eins besorgt, und die waren in einem Garten aufgestellt worden. Bei meiner Rede sollte bei einem bestimmten Stichwort ein Kleingärtner rüber telefonieren und dann sollten die Raketen gezündet werden. Das funktionierte auch tatsächlich. Aber in dem Moment kam gerade eine U-Bahn lang gefahren und durch die Explosion der Raketen wurde der Notalarm ausgelöst. Die U-Bahn blieb einfach stehen. Und Dr. Schulz, der hatte das bemerkt, und sofort kam die Wall-Security. Und Schulz sagte, seid ihr wahnsinnig geworden, das ist strafbar. Aber die U-Bahn blieb verschreckt stehen, was da wohl automatisch geschieht.

Aber das war eine tolle Aktion, aber ein bisschen hart an der Grenze.

HH: Jetzt muss ich mit Blick auf die Uhr sagen, wir machen hier einen Schnitt und werden das dann im Herbst gerne fortsetzen, denn es gibt noch mehr zu erzählen. Vielen Dank, Klaus, und bis bald!

1 thought on “Im Windschatten der Geschichte und der quietschenden Gisela – ein Gespräch mit dem Künstler, Lehrer und Kleingärtner Klaus Trappmann”

  1. Klaus Trappmann war mein Lehrer an der SFE in der Burgemeisterstraße. Er wohnte damals in der Landhausstraße in einer Riesenwohnung. Jetzt stoße ich zufälliger Weise auf dieses s.o. Interview und freue mich darüber, Klaus gedanklich wiederzutreffen. Ich verdanke der SFE meinen Reslschulabschluß und meine Hochschulzulassung durch den Abschluss eines damals so benannten Begabtenabitur! Um formal zugelassen zu werden bedurfte es einer Begründung und da mein Schwerpunkt in der Germanistik lag, schrieb mir Klaus ein „Gutachten“, das mir das Thema Grammatik attestierte. Wenn man so will, hat also Klaus Trappmann sehr zu meinem Lebensweg beigetragen, wenn nicht ihn sogar ermöglicht. Erstaunlich und schön, daß es Klaus mit der SFE und in der SFE noch immer gibt.

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