Schreiben für die Nachbarschaft
Öffentliche Schreiber gehören zu den ältesten Traditionen der Kultur- und Sozialgeschichte.
Die Menschen in unserer Nachbarschaft kommen aus vielen Ländern und Kulturen. Sie leben miteinander, nebeneinander oder auch aneinander vorbei.
Seit nun fünf Jahren laufe ich täglich mehrmals mit meiner Hündin durch die Nachbarschaft des Bülowkiezes. Wir sind mit vielen Menschen bekannt, grüßen einander, kommen ins Gespräch. Gelegentlich kommt es dazu, dass mich Leute darum bitten, für sie einen Brief zu schreiben oder einen an sie gerichteten Brief zu erklären.
Bei diesem Projekt werde ich keine Briefe schreiben. Mir geht es darum, dass die Nachbarschaft anders sichtbar, hörbar und lesbar wird. Es gibt so viele Geschichten, die darauf warten, erzählt, gehört und aufgeschrieben zu werden. Die japanische Galeristin in der Blumenthalstraße, der syrische Flüchtling, der in der Demenzpflege arbeitet und zu Fuß mit Navi seines Handies nach Deutschland kam, um Haaresbreite wäre er wie sein Vater getötet worden. Oder der kosovarische Friseur in der Alvenslebenstraße, der früh zu Beginn der Pandemie seinen Laden mit Luftfiltern ausstattete, die BetreiberInnen von Nagelstudios, Barbershops und Massagesalons, der iranische Barwirt, der DHL-Shop-Betreiber, bei dem alle Pakete der Nachbarschaft landen, die Betreiberinnen des Pastawerks im Seitenarm der Bülowstraße, die polnischen Rentner der Hunderunde in der Stadtwildnis des Gleisdreiecks, die polnische Diakonieschwester, die in der ambulanten Pflege arbeitet, die Spätis der Nachbarschaft, die Familienhelfer- und JugendarbeiterInnen der freigemeinnützigen Träger und des Bezirks, die Hauswarte der Gewobag. Die Aufzählung ist nicht vollständig. Ich bin auf ihre Geschichten gespannt.
In diesem Blog versuche ich, Nachbarschaft erzählbar zu machen, als ein Netz, das sich wie von selbst aufspannt und neue Knoten oder Verbindungen herstellt. In den bald folgenden ersten Beiträgen hoffe ich auf viele Kommentare, auch Empfehlungen, bitte aber auch um Ihr Verständnis, dass die Kommentare moderiert werden, um das Blog frei von spam zu halten.
Als öffentlicher Schreiber diene ich den Geschichten meiner NachbarInnen und versuche mit journalistischer Neugier, sie so anschaulich wie möglich zu erzählen. Hierbei wird wohl auch eine Rolle spielen, welche Folgen die Pandemie in unserer Nachbarschaft hat: durch häusliche Gewalt, durch Versäumnisse beim Fernunterricht, durch verlorene Anschlüsse. Die „Querdenker“ der Basis-Partei, die kürzlich vor dem Café Berio in der Maaßenstraße lauthals und unmaskiert sangen und tanzten und gegen die Bundesnotbremse protestierten, hatten kein Auge für die vermummten Sanitäter der Feuerwehr, die gerade nebenan einen Patienten in ihren Wagen trugen.
Wie haben WirtInnen und Kleingewerbetreibende die Notlage überbrückt? Wer konnte von Zuwendungen wie der Novemberhilfe und der Neustarthilfe profitieren? Wie kommt es, dass viele Menschen, die das Nachtleben rund um den Nollendorfplatz gestalten, nun als HelferInnen in den Impfzentren einen guten Job machen? Auch ihre Erfahrungen warten darauf, erzählt zu werden.
Meine Verbundenheit nutzen
Ich habe diese Idee entwickelt, weil ich dieser Nachbarschaft seit über vierzig Jahren verbunden bin. 1978 bis 1981 war ich Mitverleger und Lektor im Verlag rosa Winkel, der damals in einer Fabriketage in der Kulmer Straße residierte. 1987 gehörte ich zu den GründerInnen von Radio 100, das in der Potsdamer Straße saß. 2014 gehörte ich zu den GründerInnen der Krautreporter.
In dieser Tradition verstehe ich mein Angebot als Nachbarschaftsschreiber in Schöneberg-Nord. Die Vielfalt von Stimmen und Problemlagen sichtbar und hörbar zu machen, das ist meine Herausforderung.
Mir kommt zu hilfe, dass ich in den vergangenen acht Jahren an mehreren Medienprojekten beteiligt war. Ich war Berater von Tilo Jung für sein YouTube-Format „Jung & Naiv“, das im Jahr 2014 mit dem Axel-Springer-Preis für junge Journalisten und dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde. Im gleichen Jahr erhielt ich den Michael-Althen-Preis für Kritik für einen Blogeintrag in meinem Blog www.anlasslos.de.
Das Leitmotiv meines Projekts in Schöneberg-Nord heißt: Ihre Geschichte zählt. Das gilt für jede Geschichte. In erzählten Geschichten findet Nachbarschaft ihren Ausdruck auch und gerade dann, wenn es schwierig wird. Geschichten überbrücken bestehende Trennungen, machen neugierig auf die Nachbarn, sie wecken und sie fördern Hilfsbereitschaft.
An der nördlichen Grenze des Projektgebiets, in der Kurfürstenstraße, bündeln sich mehrere Problemlagen. Viele Heranwachsende, die ihren Mut erproben oder ihr Mütchen kühlen bei Räuber- und-Gendarm-Spielen mit der Polizei, wie es in den beiden Sommern der Pandemie fast abendlich im Gleisdreieckpark und im Nelly-Sachs-Park der Fall gewesen ist. Der jüngste Sohn einer arabischen Großfamilie fragte früh, ob er meine Hündin streicheln dürfe, und grüßt mich seither, wenn wir uns auf der Straße begegnen, aber nur verstohlen hinter dem Rücken seiner Mama.
Das Projekt wird gefördert durch den Spendenfonds Schöneberg-Nord.