Demenz und Pflege

Ulrich Kratzsch kenne ich seit mehreren Jahrzehnten, zuerst aus der Zeit, als er noch auf dem Weg zu einer kommunikationswissenschaftlichen Karriere war, später durch unsere Nachbarschaft am Bülowbogen und gemeinsame Freunde.

Früh erkannte er und sein Compagon Günter Meyer die Chancen und Lücken im sozialen Geflecht der Pflegeversicherung, die blinden oder weißen Flecken, wenn die Bedürftigkeit der KlientInnen nicht allein körperlicher Natur ist, was oft schon schwer genug ist. Der Wegbereiter der Pflegeversicherung Norbert Blüm, der Herz-Jesu-Sozialist aus der CDU, war zum Ende seines verdienstvollen Lebens vom Kopf abwärts gelähmt.

Wenn aber auch die Seele aus dem Gleichgewicht gerät, wenn etwas im feinstofflichen Gefüge von Familien und Freundeskreisen plötzlich auffällt wie zum Beispiel sich auftuende Erinnerungslücken, schwankende Stimmungslagen, ein Verstummen nachbarschaftlicher täglicher Begegnungen, dann wird es für alleinstehende ältere Menschen sehr schwer, sich einzugestehen, dass sie und wie sehr sie Hilfe benötigen.

Ich spreche in dieser Hinsicht auch aus eigener Erfahrung. Im Jahr 2011 übernahm ich für acht Monate die Pflege meiner damals 89jährigen Mutter, die infolge ihrer Parkinsonerkrankung milde Vorzeichen der Verwirrung entwickelte. Eine andere Form der Wahrnehmung entsteht, die nicht aus dem sonst so selbstverständlichen Realitätsprinzip abgeleitet werden kann, sondern eher zu verstehen anhält, wie der vorsichtige Umgang mit milden Halluzinationen aussehen kann. Die andere Welt und ihre Wahrnehmung haben ihre eigenen Koordinaten einer imginären Landkarte, auf der sich gebrauchte Windeln in hungrige Katzen verwandeln. Wir kommen darauf zurück.

HH: Ulrich, schön dass es endlich geklappt hat. Du hast ja schon mehrfach dich darum bemüht, mich in deine Gemeinde zu holen. Ich habe noch meine kleinen Vorbehalte, aber das ist eine andere Geschichte. Als wir uns vor über 40 Jahren erstmals begegneten, sah es so aus, als seist du auf dem Weg zu einer kommunikationswissenschaftlichen Uni-Karriere.

UK: Ja, das war bei Otfried Jarren und Günter Bentele. Damals befassten wir uns mit den frühen Formen des Kabelfernsehens …

HH: … über das erste Pilotprojekt in Karlsruhe schrieb ich am Otto-Suhr-Institut 1984 meine Prüfungsklausur im Fach Innenpolitik. Im Rückblick zeigt sich das Drama der Pfadabhängigkeit, dass der damalige Postminister Christian Schwarz-Schilling die Kupferkoaxialkabel bevorzugte, obwohl schon damals klar war, dass Glasfaser vielfach besser sein würde. Wir hinken deshalb noch heute in weiten Teilen der Republik dem Fortschritt hinterher.

UK: Noch befasste ich mich damals mit der Idee einer Technologievermittlungsagentur für kleine Firmen in den neuen Bundesländern. Wir haben damals erstaunt festgestellt, wie schwer es fiel, geeignete Dialoge in Gang zu bringen. Aus der Erfahrung habe ich meine Freude am Organisieren in das Projekt mit Günter Meyer eingebracht. Uns ging es darum, dass bedürftige Menschen gut gepflegt werden. Unsere Firma haben wir im Jahr 1995 gegründet.

HH: Damals nahm das Projekt einer gesetzliche Pflegeversicherung Gestalt an. Und wie das so ist, hattest du und dein Geschäftspartner Günter Meyer, ein promovierter Kunsthistoriker, die richtige Witterung, dass es in diesem Feld besondere Anforderungen bei denjenigen Menschen geben werde, die nicht nur körperlich, sondern auch seelisch hilfebedürftig sind. Ihr gehört zu den Pionieren, die früh betreute Wohngemeinschaften ins Leben gerufen haben.

UK: Wir wollten uns besonders um pflegebedürftige Menschen kümmern, die im weitesten Sinne an demenziellen Erkrankungen leiden. Wenn sie in ihren Wohnungen auf sich allein gestellt lebten, kann es oft zu Versorgungslücken kommen, in deren Folge sich ihr Zustand rapide verschlechtert.

Wir haben uns früh auf die Bedürfnisse dieser Menschen spezialisiert und ein eigenes Angebot für sie entwickelt.

HH: Mich interessiert bei Euch besonders die lebensweltliche Seite. Als ich meine Mutter pflegte, hatte ich den Vorteil, dass sie jeden Tag zweimal von einer Pflegerin aus der Diakoniestation besucht wurde. Sie kümmerte sich um die körperliche Pflege. Ein Zürcher Freund von mir ist Gerontopsychiater und hat mir damals von einer Komplikation der Parkinson-Erkrankung erzählt, die zu milden Formen der Demenz führen kann. Ich hatte damals mit einer früheren Kollegin von Radio 100 ein Blogprojekt unter dem Titel Muttertage begonnen. Sie war die Fischertochter, ich der Fischersohn, wir hatten so über unsere täglichen Erfahrungen berichtet und uns dadurch quasi auch selber geholfen. Nach einigen Monaten kam ich zu dem Eindruck, dass die Medikation meiner Mutter überprüft werden müsste und brachte sie in die örtliche Neurologie der Uniklinik. Als ich sie nach zwei Tagen wieder abholen wollte, sagte mir der Stationsarzt, sie müsse noch länger bleiben, weil sie plötzlich stark erhöhte Leberwerte hatte und man eine Gallengangspiegelung vornehmen müsse. Ich war wie vom Donner geschlagen und fragte ihn, ob sie ihre neuen Medikamente über Wirkstoffpflaster bekomme. Ja, sagte er, warum fragen Sie? – Ich entgegnete, er solle doch mal die pergamentdünne Haut meiner Mutter anschauen und sich ausrechnen, wie schnell der Wirkstoff in zu hoher Potenz durch die Haut aufgenommen werde. Außerdem warf ich ihm vor, dass er die Patientenakte meiner Mutter offenbar nicht gelesen hatte, denn da war schon einmal ein ähnlicher Vorgang enthalten. Außerdem hatte meine Mutter keine Galle mehr. Es war wohl eher ihr Status einer Privatpatientin, die der Klinik lukrativ erschien. Der Käs´ war damit gegessen und nach einem Gespräch mit dem Klinikchef konnte ich mit meiner Mutter nach Hause fahren.

Wie geht Ihr mit ähnlichen Situationen um?

UK: In der Pragmatik der Pflegeversicherung gibt es das Gerüst der Pflegestufen und daraus abgeleitet den täglichen Zeitbedarf.  Das war ein großes Problem. Wir hatten Pflegebedürftige mit Pflegestufe zwei oder drei. Das heißt, wir hatten täglich dreimal eine halbe Stunde Zeit für sie. In der Zwischenzeit sitzen sie allein vor dem Fernseher in einer dunklen Hinterhofwohnung. Versicherungstechnisch ist die Pflegeversicherung quasi so etwas wie Teilkasko. Was in dem Leistungskatalog nicht enthalten ist und deshalb auch nicht abgerechnet werden kann, fällt durch den Rost oder muss von den Versicherten und ihrer Familie privat bezahlt werden.

Bei dementen KlientInnen tut sich da eine große Lücke auf, weswegen wir früh damit begonnen haben, für sie Wohngemeinschaften ins Leben zu rufen. Unsere Sozialarbeiter, die in den WGs arbeiten, hüpfen nicht rein oder raus, sondern sind da. Um den Küchentisch oder im Wohnzimmer, und wer sich in sein eigenes Zimmer zurückziehen will, kann das ohne weiteres. Wir haben das wirklich von der Pike auf gelernt. Einsamkeit verschlimmert den Gemütszustand und macht noch depressiver. Mit Medikamenten allein ist dieser Teufelskreislauf nicht zu beantworten. Wo das soziale Umfeld wegbricht oder fehlt, kann sich die Lage rapide verschlimmern. Und wenn die Kinder nicht mehr in der Stadt leben oder sich überfordert fühlen, wird das noch schwerer.

HH: Ihr habt eine Lücke entdeckt und sie mit einem eigenen Angebot beantwortet.

UK: Das Bundesmodellprojekt Wohnen und Betreuung für Menschen mit Demenz hat uns gefragt, ob wir nicht nur eine, sondern sechs Wohngemeinschaften betreuen wollen, das hat uns auf unserem Weg sehr bestärkt. Es muss auch ökonomisch natürlich irgendwie rund werden. In den Wohngemeinschaften wohnen jeweils acht Menschen zusammen und unsere Pflegekräfte werden von der Diakonie, vom Roten Kreuz und auch durch private Anbieter unterstützt. Inzwischen bestaunen Besucher aus der ganzen Welt unsere Projekte. Wir zeigen, dass sich viel ändern lässt. Der gesetzliche Rahmen bietet mehr Spielraum, als anfangs angenommen wurde.

Unsere Klienten können viele Dinge wieder erleben, die ihnen alleine nicht möglich gewesen wären. Natürlich werden unsere Projekte regelmäßig evaluiert. Auch der Medizinische Dienst kommt regelmäßig.

Die Familienangehörigen sind sehr dankbar, dass ihre Verwandten aus der Einsamkeit des abgeschlossenen Zimmers herausfinden.

HH: Wie werden eure Projekte evaluiert? Erhalten Eure Mitarbeiter Supervision? Ich stelle mir das infolge meiner eigenen Erfahrung als hilfreich vor.

UK: Der Job des Altenpflegers ist anstrengend und auch emotional belastend. Sie brauchen Unterstützung und Weiterbildung. Wir haben inzwischen eine große Zahl von Mitarbeitenden ausgebildet und ihnen Fortbildungen ermöglicht.

HH: Du bist vor drei Jahren mit der Paul-Gerhard-Medaille ausgezeichnet worden. Ihr Name verdankt sich einem der prominentesten protestantischen Dichters von Kirchenliedern.

UK: Wir haben hier vor zwanzig Jahren die ersten Gottesdienste in der Luther-Kirche gemacht und die Leute aus ihren Wohnungen abgeholt. Das gemeinsame Singen und Beten wird von den Menschen sehr gerne wahrgenommen.

HH: Was macht ihr tatsächlich in diesen Runden oder in den Gottesdiensten? Wie werden sie von den Teilnehmenden wahrgenommen?

UK: Viele kennen die Kirchenlieder und können sie noch singen oder sind froh, wenn andere sie singen und sie mitsummen. Lobe den Herren! Auch beim Vaterunser spielt das Gedächtnis mit. Auch der Segen, wenn den Menschen die Hände aufgelegt werden, wird als Segen wahrgenommen. Buchstäblich! Wenn du mit einem dementen Menschen vor dem Altar stehst, dann ist das nicht nur für ihn oder sie eine unglaubliche Erfahrung, ein Zuwachs an Kraft, der zuvor kaum für möglich gehalten worden wäre, sondern gerade auch für mich selbst. Wie wir da so gemeinsam stehen, trete auch ich in die Begegnung mit Gott.

HH: Ist das bisher auf die evangelische Kirche begrenz oder machen die Katholiken auch mit? Wie ist das mit muslimischen und jüdischen Menschen?

UK: Das ist im Wachsen. Natürlich haben wir klein angefangen. Aber in unserer Nachbarschaft haben wir natürlich auch muslimische Klienten. Der Kreis der KlientInnen wird größer und das gilt dann auch für unser Angebot.

HH: Wenn ich das richtig verstehe und das aus dem trivialen Blickwinkel der gesetzlichen Pflegeversicherung betrachte, dann bedient ihr ein bisher vakant gebliebenes spirituelles Bedürfnis Eurer KlientInnen, richtig?

UK: Das Fachchinesisch spricht von einer „demenzsensiblen Kirchengemeinde“. Für Ökumene und Gemeinschaft mit anderen religionsgemeinschaften noch ein weites Feld. Immerhin hat der Kirchenkreis Tempelhof-Schöneberg das Thema Demenz zu einem eigenständigen Fachschwerpunkt Geistliches Zentrum für Menschen mit Demenz ausgebaut. Ganz klar geht es da nicht um Mission, sondern um ein spirituelles Angebot, da haben wir schon viel erreicht. Ich verstehe das als eine Keimzelle für Weiterbildungsangebote in der interkonfessionellen Seelsorge. Ökonomisch gesprochen: die Trostbedürftigkeit unserer KlientInnen und ihrer Angehörigen ist fast unermesslich.

HH: Und das hier an unserem heimischen Bülowbogen mit der auf den Gleisen quietschenden Gisela …

UK:… sie fährt ungefähr vier Meter vor meinem Wohnzimmerfenster vorbei. Das war in den Anfängen ein Randgebiet des etwas verwahrlosten Sozialen Wohnungsbaus. Jetzt sprießen hier links und rechts luxuriöse Neubauten hoch, zwei Parks liegen direkt vor der Tür. Die Nachbarschaft hat sich sehr geändert. Durch den sozialen Wohnungsbau ist die Nachbarschaft sehr muslimisch und bunter geworden. Das nachbarschaftliche Engagement hat deutlich zugenommen, auch in deiner Steinmetzstraße mit dem Bildungszentrum.

HH: Ein neuer Brennpunkt ist die Toilettenanlage am Eingang zum Nelly-Sachs-Park. Ein Wallmitarbeiter hat mir kürzlich gesagt: „Wir haben den Kampf hier verloren.“ Die Anlage wird tagtäglich von neuem verwüstet, für Prostitution und Drogenhandel missbraucht. Der Fortschritt springt manchmal auch mächtig zurück. Vielen Dank für das Gespräch!

UK: Gerne.

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